Wissenschaft persönlich: Dr. Etta Grotrian

Eine Frau steht vor ausgestopften Insekten. Daneben sind Geräte und ein weißes Licht zu sehen, hinter ihr sitzt jemand am Computer.
Dr. Etta Grotrian arbeitet in der Stabsstelle Digitale Strategie im Übersee-Museum Bremen. Sie forscht daran, wie Wissensorganisation und -vermittlung mit digitalen Werkzeugen für die Museumsarbeit fruchtbar gemacht werden kann.

© WFB / Jonas Ginter

Bremens Wissenschaft ist exzellent! Und daran haben natürlich die vielen schlauen Köpfe, die sich in den Laboren und den Hörsälen tummeln, erheblichen Anteil. Wer steckt hinter dem Erfolg der Bremer Wissenschaft? In unserer Porträt-Reihe Wissenschaft persönlich stellen sich Wissenschaftler:innen und Wissenschaftskommunikator:innen regelmäßig unseren Fragen und verraten, was sie an ihrer Arbeit lieben und warum der Standort Bremen für sie genau der richtige ist.

Im Dezember 2023 stand uns Dr. Etta Grotrian, Mitarbeiterin der Stabsstelle Digitale Strategie im Übersee-Museum Bremen, Rede und Antwort. In ihren Forschungsfeldern Geschichtswissenschaften und digitale Museumspraxis macht sie u.a. Wissen sichtbar, das bislang in den Depots und Aktenschränken des Museums verborgen war. Was Etta Grotrian geworden wäre, wenn sie sich für einen anderen Beruf hätte entscheiden müssen und was sie an Bremen als Wissenschaftsstandort besonders schätzt, erfahrt ihr in diesem Interview:

  • Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht Wissenschaftlerin geworden wären?

Ich hätte vermutlich geplant, Lektorin zu werden. Meine ersten Berufserfahrungen habe ich im Verlag gemacht und mir hat das Büchermachen sehr gefallen. Ich bin allerdings froh, dass ich nicht dabei geblieben bin, denn ich habe das Gefühl, dass ich vieles von dieser Erfahrung mitnehme, aber eben noch eine ganze Menge Neues dazugewonnen habe.

  • Wann finden Sie Ihren Job klasse? Welche Momente sorgen für Begeisterung?

Ich finde es bereichernd, dass keins meiner Projekte ist wie das andere, dass ich jeden Tag Neues dazulernen kann. Das Übersee-Museum ist ein Museum, in dem viele Fachdisziplinen vertreten sind. Interdisziplinäre Zusammenarbeit begeistert mich, und ich bin froh, wenn ich von anderen Disziplinen und ihren Fragestellungen, ihren Herangehensweisen, ihrer Zusammenarbeit und ihren Werkzeugen lernen kann.

  • Stellen Sie sich vor, Sie hätten auf dem Freimarkt einen Stand und müssten nun den Besucher:innen erklären, an was Sie gerade arbeiten – wie sähe Ihr Stand aus?

Ein Riesenrad wäre eine Möglichkeit, um zu erleben, wie sich der Blick verändert, wenn man sich bewegt. Daran könnte ich zeigen, dass sich auch die wissenschaftlichen Erklärungen immer wieder verändern, dass keine Erklärung jemals abgeschlossen ist. Das ist das Spannende an den Informationen in einem Museum. Den historischen, biologischen und kulturellen Sammlungen werden immer wieder neue Ebenen von Bedeutung beigefügt, die unser Verständnis von der Welt verändern. Während die Sammler:innen vor hundert Jahren häufig ein ganz anderes Interesse hatten, gilt es heute, diese Wissenssysteme auch zu hinterfragen.

  • Welche gesellschaftliche Bedeutung hat Ihre Arbeit und worin besteht der Nutzen?

Zu meinen Aufgaben gehört es, Wissen, das in den Depots und Aktenschränken des Museums verborgen ist, sichtbar zu machen. Gemeinsam mit meinen Kolleg:innen erforsche ich, wie das am besten gelingen kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nur dann, wenn wir unser Wissen in einer globalen Perspektive zusammenbringen, unseren Horizont erweitern und dass dies allen nützt.

  • Wann sprechen Sie bei Ihrer Arbeit von Fortschritt? Oder anders gefragt: Womit retten Sie die Welt?

Für mich ist es ein Fortschritt, wenn es gelingt, dass andere eine Veränderung als eine Bereicherung empfinden. Als Historikerin habe ich mich viel mit der Frage beschäftigt, wie Dinge, die einst neu, undenkbar oder unvertraut waren, zu etwas Selbstverständlichem werden. Das betrifft große Ideen, genauso wie kleine Werkzeuge oder die Einsicht in ein großes Unrecht – Das erforschen die Geschichtswissenschaften. Dass es uns weiterbringt, wenn wir Dinge hinterfragen und dazulernen, Einsichten auch revidieren können, das kann unsere Welt ein bisschen weiterbringen.

  • Verraten Sie uns Ihr liebstes Arbeitsinstrument oder Ihre wichtigste Forschungsmethode?

Mein wichtigstes Arbeitsinstrument ist ein Wiki, in dem ich alles speichere, das mir wichtig erscheint. Ein Wiki ist ein sehr einfaches Content Management System, um Notizen und Recherchen webbasiert und vernetzt zu organisieren. Genauso wichtig allerdings ist mir ein Notizbuch und ein guter Stift. Beides ergänzt sich perfekt – analog und digital.

  • Wann und warum führte Sie Ihr Weg nach Bremen? Und woher kamen Sie?

Vor fünf Jahren bin ich nach Bremen gezogen, weil mich die Aufgabe, die das Übersee-Museum formuliert hat, sehr gereizt hat. Das Museum hat eine ambitionierte Strategie formuliert, wie uns digitale Werkzeuge in allen Bereichen der Museumsarbeit – Ausstellen, Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln – helfen können und wie das auch unsere Zielsetzung erweitern kann. Zuvor habe ich meine Heimat in Berlin gefunden, wo ich 25 Jahre gewohnt habe. Dort habe ich u.a. im Jüdischen Museum Berlin als Wissenschaftlerin im digitalen Fachbereich gearbeitet und an der Freien Universität Public History unterrichtet.

  • Was schätzen Sie am Land Bremen als Wissenschaftsstandort? Was hält Sie hier?

Für mich ist die Bremer Wissenschaftslandschaft sehr vielfältig. Ich habe vor fast zehn Jahren bereits an der Universität Bremen im Fachbereich für Osteuropäische Geschichte unterrichtet. Mit den Studierenden habe ich damals Material der Protestbewegung im Polen der 1980er Jahre, das im Archiv des Instituts gesammelt wurde, für Online-Nutzer:innen aufbereitet. Ich fand dieses Archiv, das die Mitarbeitenden mit viel Engagement betreut und aufgebaut haben, einzigartig. Ebenso finde ich das Projekt „Aus den Akten auf die Bühne“ großartig, bei dem geschichtswissenschaftliche Quellen für ein Theaterpublikum aufbereitet werden – ich hatte so etwas noch nicht zuvor erlebt. Ich gucke mich gern an allen anderen Hochschulen in und um Bremen um und knüpfe Netzwerke. Abgesehen davon, dass ich sehr gern in Bremen wohne, hält mich hier eine sehr abwechslungsreiche berufliche Aufgabe mit tollen Kolleg:innen in einem Museum, das sich im Aufbruch befindet.

  • Fehlt Ihnen etwas?

Die Schusterin in Berlin-Kreuzberg, die alle meine Schuhe wunderbar repariert hat, die fehlt mir.

  • Die Wege in Bremen und Bremerhaven sind bekanntlich kurz. Wie bewegen Sie sich durch die Stadt?

Mein liebstes Fortbewegungsmittel ist mein blaues Faltrad. Bremen ist eine Stadt, in der Radfahrer:innen auch mal Vorrang haben, was in der Berliner Verkehrspolitik gerade wieder in Frage gestellt wird. Und mit dem Faltrad kann ich auch jederzeit in den Zug steigen und anderswo weiterfahren.

  • Wenn Sie die Wissenschaftsszene im Land Bremen mit einem Tier vergleichen sollten, welches würden Sie wählen und warum?

Seit ich in Bremen wohne, sehe ich viele Tiere, die ich vorher selten getroffen habe. Ich halte inne, wenn die Zugvögel über meine Terrasse fliegen, wohlorganisiert und mit einem fernen Ziel, das ganz anders ist, als der Ort, von dem man losgeflogen ist - und dann wieder mit den neuen Erfahrungen zurück zum Ausgangspunkt. Auch wenn ich von meinem Kolleg:innen gelernt habe, dass einige nur bis zum Unisee fliegen und dort übernachten.

  • Was war die größte Herausforderung Ihrer wissenschaftlichen/beruflichen Laufbahn, die Sie zu meistern hatten?

Es ist immer eine Herausforderung, ein Team zu bilden, das offen und transparent, gleichberechtigt und verantwortungsbewusst eine noch neue Aufgabe lösungsorientiert meistert. Das gelingt nicht immer, wenn es gelingt, ist es großartig.

  • Welche stehen Ihnen noch bevor?

Dazu lässt sich das gleiche antworten wie zu der Frage zuvor.

  • Haben Sie eine persönliche Erfolgsformel?

Zu versuchen, den Standpunkt und die Perspektive eines anderen zu verstehen, ist für meinen Beruf das Wichtigste. Außerdem gibt es einen Satz des Neurobiologen Semir Zeki, den ich mir mal auf einer sehr spannenden Museumskonferenz vor fast 20 Jahren notiert habe und der mich bei vielen meiner Forschungen und Herangehensweisen anleitet: „Ambiguity is not uncertainty, but in the opposite the certainty of many different concepts.“ (Mehrdeutigkeit ist nicht Ungewissheit, sondern im Gegenteil die Gewissheit vieler verschiedener Konzepte.)

  • Aus welchem Scheitern haben Sie am meisten gelernt?

In meinem beruflichen Leben habe ich häufig zwischen den Stühlen gesessen: zwischen den Stühlen von Abteilungen, wenn man gemeinsam etwas Neues versucht hat, und zwischen den Stühlen unterschiedlicher Disziplinen, von Informationstechnologie und historischer Forschung. Mich hierbei zu behaupten, daran bin ich auch schon gescheitert. Glücklicherweise hat sich im Laufe meines Berufslebens das „Zwischen-den-Stühlen“ zu einer sehr gefragten Disziplin entwickelt, da man dabei sehr umfangreich lernt, zwischen verschiedenen Positionen zu übersetzen und zu vermitteln.

  • Wobei oder wodurch wird Ihr Kopf wieder frei?

Musik machen, Klavierspielen und Trommeln, aber nur zum eigenen Vergnügen.

  • Die nächsten Nachwuchswissenschaftler:innen ziehen nach Bremen. Was würden Sie ihnen raten, wo man wohnen und abends weggehen soll?

Ich entdecke immer wieder neue schöne Ecken von Bremen, daher mag ich mich hier nicht festlegen, fühle mich aber wohl im Viertel.

  • Mit wem würden Sie diese Wissenschaftler:innen hier in Bremen oder Bremerhaven bekannt machen wollen?

Das hängt davon ab, wofür sie sich interessieren. Menschen (und Wissenschaftler:innen auch …) sind unterschiedlich.

  • Wenn Sie einen Tag lang Ihr Leben mit einer Bremer oder Bremerhavener Persönlichkeit tauschen könnten, wessen Leben würden Sie wählen?

Da würde ich gern verzichten. Ich fühle mich in meinem Leben sehr wohl.

Eine Frau steht in einem großen Raum mit Pflanzen und einem Glaskasten im Hintergrund.

© WFB / Jonas Ginter

Geburtsjahr

1971

Fachbereich / Forschungsfeld

Geschichtswissenschaften, digitale Museumspraxis

Aktuelle Position / Funktion

Stabsstelle Digitale Strategie im Übersee-Museum Bremen

Aktuelle Tätigkeit / aktuelles Forschungsprojekt

Wissensorganisation und -vermittlung mit digitalen Werkzeugen für die Museumsarbeit fruchtbar zu machen

Familienstand

verheiratet

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